von Morrighan » Mi 17. Dez 2014, 16:02
Das verlegte Weihnachtsfest
"Weihnachten wird verlegt," verkündete Hildegard Schmitz entschieden und stellte ihre prall gefüllten Einkaufstaschen geräuschvoll auf dem Küchentisch ab. Ihre Kinder, Nadine, 15 Jahre alt, Jens, 12 Jahre alt und Benni, 4 Jahre alt, sahen sie verwirrt an. Doch sie erhielten keine Erklärung. Stattdessen begann die Mutter, in aller Seelenruhe ihre Einkäufe auszupacken. Neben den alltäglichen Dingen wie Butter, Käse oder Toilettenpapier kamen auch Pakete mit Dominosteinen und Lebkuchen, Netze mit Apfelsinen und Nüssen sowie drei große Schokoladenweihnachtsmänner zum Vorschein. Es war der 22. August.
Minuten vergingen, und die Kinder starrten noch immer wortlos und völlig entgeistert die Weihnachtssüßigkeiten an, die bei gefühlten 30°C im Schatten mehr als fehl am Platze wirkten. Endlich fasste sich Jens und fragte "Was soll das heißen, Weihnachten wird verlegt? Und wo hast du überhaupt das ganze Zeug her?" "Das Zeug," antwortete Frau Schmitz, "habe ich aus dem Supermarkt. Und ich habe keine Lust, im Dezember trockene Dominosteine und labberige Lebkuchen zu essen, nur weil diese Dinge Jahr für Jahr früher in die Läden kommen. Deshalb wird Weihnachten dieses Jahr verlegt. Fangt schonmal an, eure Wunschzettel zu schreiben, am 24. September ist Bescherung."
Jens wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Nadine fand die ganze Sache "oberpeinlich", verkündete, dass sie dabei ganz bestimmt nicht mitmachen würde und verzog sich beleidigt auf ihr Zimmer. Aber das tat sie auch beim "richtigen" Weihnachten, also war das völlig normal. Nur Benni schien begeistert zu sein. "Au ja, dann kommt der Weihnachtsmann in der Badehose!" krähte er fröhlich. Als Herr Schmitz nach Hause kam, wurde er ebenso vor vollendete Tatsachen gestellt wie seine Kinder.
Und damit begannen die Weihnachtsvorbereitungen der Familie Schmitz.
Als erstes mussten die Verwandten eingeweiht werden. Leider schien zunächst niemand Begeisterung für diese Idee zu zeigen - außer Oma Frieda. Oma Frieda wohnte weit weg von der Familie in Bayern. Sie hätte gern öfter Weihnachten mit dem Rest der Familie gefeiert, doch meist ließ das Wetter es nicht zu, dass sie sich auf die Reise machte. Im September sollte das jedoch kein Problem sein. "So kann ich endlich mal wieder mit euch allen feiern," erklärte sie erfreut, als die Mutter ihr am Telefon von der Verlegung des Weihnachtsfestes berichtete "und den Rest der Sippe überlass nur mir, die überrede ich schon noch." So war die erste Hürde überwunden.
Das nächste Problem war der Weihnachtsbaum. Dass es im September keine Händler gibt, die ihre Bäumchen an der Straße verkaufen, war klar. Aber auch der Förster erwies sich als äußerst widersinnig, als der Vater ihn um die Erlaubnis bat, im Wald einen Weihnachtsbaum schlagen zu dürfen. Letzten Endes einigte man sich darauf, die kleine Tanne im Garten zu schmücken. Bei gutem Wetter könnte man so gut draußen feiern.
Nach und nach begann auch Jens, sich auf das vorverlegte Weihnachtsfest zu freuen. Er war mit Feuereifer dabei, als es ans Plätzchenbacken ging, und im Musikunterricht begann er - sehr zur Verwunderung seiner Lehrerin - plötzlich laut "Stille Nacht, heilige Nacht" zu trällern.
Selbst Nadine fand die ganze Sache gar nicht mehr so peinlich wie am Anfang, auch wenn sie das ihrer Familie gegenüber nie zugegeben hätte. Der Grund dafür war ganz einfach, dass ihre Freunde sie darum beneideten, dass sie nicht so ein spießiges Weihnachtsfest im Winter haben würde, wie alle anderen. Ihrer Familie gegenüber tat Nadine jedoch weiter so, als wäre das verlegte Weihnachtsfest das schlimmste, dass ihr je passiert wäre.
Weihnachten - das heißt, der 24. September - kam mit Riesenschritten näher. Das Wetter war noch immer sonnig und warm, und so beschloß man, dass es anstatt des traditionellen Gänsebratens ein Grillfest geben sollte.
Das Fest wurde ein voller Erfolg. Oma Frieda hatte nicht zu viel versprochen. Die ganze Familie war gekommen und tummelte sich nun fröhlich im Garten. Geschenke wurden ausgetauscht, es wurde gegessen, gelacht und sogar Weihnachtslieder wurden vor dem geschmückten Tännchen gesungen. Die verwunderten Nachbarn wurden kurzerhand ebenfalls eingeladen. Schließlich soll man zu Weihnachten ja gastfreundlich sein.
Nach dem vorverlegten Weihnachtsfest kehrte der Alltag wieder im Hause Schmitz ein. Alles ging seinen gewohnten Gang, bis der Dezember anbrach. Die Kinder waren betrübt und konnten sich kaum für die Weihnachtsfeiern und das Kekse backen in der Schule und im Turnverein begeistern. Sie hatten ihr Weihnachten ja schon gehabt.
Als sie eines Abends mal wieder missmutig in der Suppe rührten, schlug Herr Schmitz mit der Faust auf den Tisch. "Jetzt mal raus mit der Sprache. Was ist los mit euch? In letzter Zeit seid ihr die reinsten Trauerklöße." Nadine und Jens drucksten herum, und Benni plärrte los:"Was sollen wir denn Weihnachten machen? Der Weihnachtsmann war schon da, das ist doch alles doof!" Die anderen beiden nickten stumm.
Auch der Vater sprach kein Wort mehr. Nach dem Abendessen zog er sich seinen Mantel an und fuhr mit dem Auto fort.
Als er zurück kam, waren die Kinder bereits im Bett. Seine Frau erwartete ihn besorgt. "Wo bist du denn gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht." Statt einer Antwort zog er drei große Schokoladenosterhasen aus seiner Aktentasche. "Frag lieber nicht, woher ich die habe." Und so fragte sie auch nicht.
Am nächsten Tag begann die Familie mit den Vorbereitungen für Ostern, das am 24. Dezember gefeiert werden sollte. Zwar erwies sich die Ostereiersuche im Schnee als fast zu einfach, aber das kümmerte die Familie wenig.
Den Zeitungsartikel über einen rätselhaften Einbruch in eine Schokoladenfabrik bewahrte Frau Schmitz noch lange als Andenken auf.