von Morrighan » Di 23. Dez 2014, 14:00
Der Wanderpokal
Niemand wusste genau, wie die Sache mit der Bodenvase angefangen hat. Vermutlich hatte eine wohlmeinende Großtante, die sie wahrscheinlich selber von irgendwem geschenkt bekommen hatte, ihrer Großnichte zur Gründung des eigenen Hausstandes, wie man früher so schön sagte, überreicht. Diese hatte sie bei nächster Gelegenheit weiterverschenkt. Wer hätte es ihr verdenken können? Diese Vase war nun wirklich alles andere als ein Schmuckstück: vor einem blassgelben Hintergrund, der an die Wände eines Raucherzimmers im Krankenhaus erinnerte, wetteiferten Blumenornamente und Paradiesvögel in den schreiensten Farben darum, das Auge des Betrachters zu beleidigen. Um alles herum war ein sich windendes Band gemalt, dessen zartrosa Ton sich mit dem Rest des Farbensembles biss.
Wie auch immer die Vase in die Familie gekommen war, sie wurde seit Generationen zu Geburtstagen, Hochzeiten, Jahrestagen - kurz gesagt zu allen Gelegenheiten, zu denen man sich beschenkte - an den nächsten weitergereicht; natürlich auch, alle Jahre wieder, zu Weihnachten. Und so lange man sie besaß, versuchte man das beste daraus zu machen. Tante Henrike benutzte sie als Schirmständer. Oma Irmgard legte in ihr Gurken und Sauerkraut ein. Opa Heinrich setzte in ihr einen Rumtopf an. Tante Friederike machte aus ihr - wohl in der Hoffnung, dass sie dabei zu Bruch ginge - ein Spiel für ihre Kinder, bei dem es darum ging, einen Tennisball in die Öffnung der Vase zu werfen oder zu schießen. Onkel Manfred, der sich dachte "Etwas so Hässliches kann nur wertvoll sein", versuchte, sie schätzen zu lassen. Der herangezogene Spezialist versicherte ihm jedoch, dass die Bodenvase zwar von ausgesuchter Hässlichkeit, jedoch von keinem Wert wäre. Die meisten begnügten sich jedoch damit, die Vase im Keller oder auf dem Dachboden verstauben zu lassen, bis die nächste Gelegenheit, sie weiterzuverschenken, kam.
"Ich frage mich, wer den Wanderpokal wohl dieses Jahr bekommt", überlegte der Vater der Famile Hinrichsen am Tag vor Weihnachten beim Abendessen. "Welche Wanderpokal?" wollte Nathalie, die ein Jahr als Austauschschülerin aus Frankreich bei der Familie verbrachte, "wird 'ier zu Weihnachten Fußball gespielt?" Peter lachte. "Nee, der Wanderpokal das ist so ne potthäßliche Bodenvase, die zu jeder Gelegenheit weiterverschenkt wird. Wenn jemand Geburtstag, ist klar, dass er das Ding bekommt. Nur zu Weihnachten kann es jeden erwischen." "Im Augenblick hat Oma Lina das Teil," fügte sein Bruder Jonas hinzu, "und Onkel Ingo nimmt Wetten an, wer denn dieses Mal dran ist."
Am nächsten Abend feierte man im Kreise der Familie, und natürlich auch mit Nathalie, Weihnachten. Hierbei wurde die Übergabe des Wanderpokals mit besonders viel Spannung erwartet. Doch sie ließ auf sich warten. Geschenk um Geschenk wurde überreicht und ausgepackt, doch es gab keine Spur von der Bodenvase. War sie am Ende zerbrochen, so dass man sie endgültig losgeworden war? Die Spannung stieg ins unermessliche. Bis zum Ende. Alle Geschenke waren verteilt, so dachten zumindest alle, als Oma Lina mit einem großen Paket in der Hand auf Nathalie zukam. In diesem Moment herrschte erschrockenes Schweigen im Raum; man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Form des Paketes ließ keinen Zweifel zu: es war der Wanderpokal. Wie konnte Oma Lina so etwas nur tun? Mit angehaltenem Atem wartete die Familie Nathalies Reaktion ab. Würde sie dieses scheußliche Geschenk als Beleidigung betrachten und verlangen, in einer anderen Familie untergebracht zu werden? Würde sie gar frühzeitig nach Frankreich zurückkehren oder sich an die französische Botschaft wenden? Würde dieser Faux pas am Ende die alte Feindschaft zwischen ihren Ländern wieder heraufbeschwören und zu einem neuen Krieg führen? All das schoss den Anwesenden innerhalb von Sekunden durch den Kopf.
Die ganze Familie beobachtete gespannt, wie Nathalie das Geschenk auspackte - und anfing zu lachen. "Vielen Dank, Oma Lina," rief sie, "das ist eine ganz tolle Geschenk!" Ein Aufatmen ging durch den Raum und man feierte weiter.
Als die Gäste gegangen waren, stieß Peter Nathalie grinsend an. "Du hast dich toll gehalten," meinte er,"man könnte dir glatt abnehmen, dass du dich über den ollen Pott gefreut hast." Nathalie sah ihn verständnislos an. "Was meinst du? Isch freue mich wirklich über die Pott." Das konnte niemand verstehen. Also erklärte Nathalie es ihnen. "Dass isch Familienpott bekommen 'abe, bedeutet doch, dass isch zur Familie ge'öre. Und außerdem," fügte sie lachend hinzu "wollte isch meine Familie etwas besonderes mitbringen, wenn isch wieder nach 'ause fahre. Jetzt kann ich ihnen ein Stück Tradition mitbringe."
So kam es dann auch. Der Vater bot, noch immer peinlich berührt über das scheußliche Geschenk, Nathalie noch bis zum Schluss an, dass sie die Bodenvase doch einfach zufällig vergessen, oder dass sie zufällig auf der Reise verloren gehen könnte, doch es blieb dabei. Die Bodenvase ging mit nach Frankreich. Und so kam es, dass ab dem folgenden Weihnachtsfest in einer Familie irgendwo in der Bretagne Jahr für Jahr "die Wanderpokal" weitergegeben und die Geschichte dazu erzählt wurde.